Entführung
Wallert

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Der Entführungsfall Wallert

Marc Wallert wurde im Jahr 2000 auf die Philippinen entführt, gemeinsam mit seinen Eltern Renate Wallert und Werner Wallert. Familie Wallert und 18 weitere Menschen wurden während eines Tauchurlaubs auf der malaysischen Insel Sipadan von der Terrorgruppe Abu Sayyaf überfallen und auf die philippinische Insel Jolo verschleppt. In Deutschland verfolgten Millionen Menschen die „Entführung der Familie Wallert“ in den Medien. Besonders im Fokus stand hierbei der Gesundheitszustand von Renate Wallert. In seinem SPIEGEL Bestseller „Stark durch Krisen“ beschreibt Marc Wallert, wie es ihm und den anderen Geiseln gelang, die Entführung in den philippinischen Dschungel zu überstehen. Seine „Dschungelstrategien“ entsprechen weitgehend den Schutzfaktoren für Resilienz, die heute wissenschaftlich gut belegt sind. Dazu gehören Akzeptanz, Optimismus, Selbstwirksamkeit und weitere Strategien zur Stärkung der inneren Widerstandskraft namens Resilienz.

Heute betrachtet sich Marc Wallert nicht als „Entführungsopfer“, sondern bezeichnet sich als „Entführungsüberlebender“. Denn er hat seine Entführung gut überstanden und viel aus seiner Zeit als Geisel gelernt. Seine Erkenntnisse aus dem Dschungel überträgt der Autor und Redner in die Welt seiner Leserschaft und Vortragsgäste.

In Ergänzung zu seinem Buch finden Sie in diesem Artikel spannende Hintergründe zur Entführung von Marc Wallert und seinem Leben nach der Geiselhaft.

Die Entführung der Familie Wallert – verschleppt auf die Philippinen

Am Ostersonntag 2000, am 23. April gegen 20 Uhr Ortszeit, begann auf der anderen Seite der Erde eine Entführungsgeschichte, die nach Auffassung deutscher Medienexperten unvergleichlich ist. Eine islamistische Terrorgruppe entführte 21 Menschen von der malaysischen Taucherinsel Sipadan vor der Ostküste Borneos auf die philippinische Insel Jolo. Die Geiseln wurden aus einem Urlaubsparadies herausgerissen und in eine Dschungelhölle verfrachtet.

Tagesschau vom 04.04.2000 auf tagesschau.de

 Zehn der Geiseln waren Tauchurlauber, die z.T. erst am Entführungstag auf der Insel eingetroffen waren. Die Anderen waren Angestellte des Tauchresorts und Mitarbeitende der Schildkrötenstation gleich nebenan. Eine der Geiseln war der 26-jährige Marc Wallert. Da er als Unternehmensberater bei PricewaterhouseCoopers (PwC) in Luxemburg arbeitete, hatte er seine in Göttingen lebenden Eltern Renate Wallert und Werner Wallert längere Zeit nicht gesehen. So entstand der Plan eines gemeinsamen Tauchurlaubs. Zehn Tage lang verlief alles völlig normal und schön. Man fuhr unterschiedliche Tauchplätze rund um die Insel an, erfreute sich an den vielen Schildkröten und riesigen Barrakudaschwärmen. Und abends saß man entspannt auf dem Sonnendeck, genoss bei einem Drink den Sonnenuntergang und anschließend den atemberaubenden tropischen Sternenhimmel. So auch am Ostersonntag.

Tagesschau vom 04.04.2000 auf tagesschau.de

Plötzlich veränderte sich das Leben der Urlaubenden binnen Sekunden dramatisch. 18 schwer bewaffnete Terroristen überfielen das Tauchresort und zwangen die Opfer in zwei Boote, etwa zehn Meter lange, schmale „Longboats“ mit einem Außenbordmotor, wie sie von den Fischern der Region benutzt werden. Den Entführern entkamen ein amerikanisches Paar, das gerade einen Nachttauchgang absolvierte und ein weiteres Ehepaar, das sich standhaft weigerte in die Boote einzusteigen.

Asiatisches Longboat, wie es die Entführer der Abu Sayyaf nutzten

Die Entführung nimmt ihren Anfang

Beide Boote waren heillos überfüllt mit 21 Geiseln, 18 Entführern und einer großen Zahl von Dieselkanistern. Marc und Renate Wallert waren zusammen auf einem Longboat, Werner Wallert auf einem zweiten. Die Boote lagen tief im Wasser, nur zehn Zentimeter fehlten bis zum Rand der Bordwand. Wäre die See nicht völlig glatt gewesen in jener Nacht, die Boote hätten ihr Ziel nie erreicht.

Starr vor Schreck hockten die Geiseln auf den Booten, eng zusammengepfercht, stumm vor Entsetzen. Die Entführer waren anfangs erkennbar nervös. Sie fürchteten, von Patrouillenbooten der malaysischen oder philippinischen Marine entdeckt zu werden. 20 lange Stunden dauerte die Fahrt vom malaysischen Sipadan bis zur philippinischen Insel Jolo. An Bord gab es kaum Essen oder Wasser. Als es Tag geworden war, brannte die tropische Sonne erbarmungslos vom Himmel. Im Gewirr der vielen kleinen Inseln verloren die Entführer schließlich die Orientierung und mussten bei Fischern nachfragen, um Kurs auf die Insel Jolo nehmen zu können, die zum Sulu-Archipel im Süden der Philippinen gehört.

Von hier waren die Entführer Tage zuvor zu ihrem Kommandounternehmen aufgebrochen. Sie gehörten zur muslimischen Terrorgruppe Abu Sayyaf bzw. Abu Sajaf, die schon zuvor wegen ihrer Terroranschläge und Entführungen gefürchtet waren. Sie kidnappten wohlhabende philippinische Einheimische, um sich zu finanzieren und verübten Anschläge auf christliche Kirchen und Schulen. Noch nie aber hatten sie das Staatsgebiet der Philippinen für eine Terroraktion verlassen. So gab es auch keine Reisewarnung für die malaysische Taucherinsel Sipadan.

Die Entführer der Abu Sayyaf (Abu Sajaf)

Die Ursachen für den immer wieder aufbrechenden Konflikt zwischen der katholisch geprägten Zentralregierung in Manila und den Muslimen im Süden des Landes – und letztendlich auch für diese Entführung – reichen weit in die Geschichte des Landes zurück. Im 13. Jahrhundert kam der Islam mit arabischen Händlern in die Region. Im 16. Jahrhundert eroberte Spanien das Land. Die nach einem spanischen König benannten Philippinen wurden zum einzigen katholischen Land Asiens – bis auf den Süden. Auch während der amerikanischen Herrschaft ab Beginn des 20. Jahrhunderts gelang keine völlige Unterwerfung der rebellischen Muslime im Süden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tobte zwei Jahrzehnte lang ein Bürgerkrieg im Sulu-Archipel. 1996 kam es zu einem Abkommen mit der Regierung in Manila, das den Muslimen einen Autonomiestatus im philippinischen Staatsverband zugestand. Dies führte letztlich zur Gründung der Abu Sayyaf Group, deren politisches Ziel immer die vollständige Unabhängigkeit und die Gründung eines islamischen Staates im Sulu-Archipel war. Das Autonomieabkommen sahen sie als Verrat an der muslimischen Sache. Die Abu Sayyaf Group ist aber keine politische Gruppierung, sie entwickelte sich zu einer radikalen und gewalttätigen islamistischen Terrorgruppe. Ihre Idole sind die Taliban in Afghanistan und der von den Amerikanern getötete Osama Bin Laden.

Der Anführer des Entführungskommandos war Galib Andang, genannt „Commander Robot“. Er befragte schon während der Überfahrt zur Insel Jolo die Geiseln nach ihren Namen, Nationalität und Beruf. Ursprünglich hatten sie gehofft, US-Bürger in ihre Gewalt zu bekommen, denn eines der Ziele der Entführung war, einen der Verantwortlichen für den Bombenanschlag auf das World Trade Center 1993, Ramzi Ahmed Yousef, aus amerikanischer Haft freizupressen. Dass es ausgerechnet vier US-Bürger waren, die auf Sipadan zurückblieben, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.

Galib Andang war es auch, der den Geiseln gegenüber deutlich machte, dass sie nur „Instrumente“ in ihrem Kampf für die volle Unabhängigkeit waren. Und er wollte von vornherein viel Publizität für seine politischen Anliegen und auch für die erfolgreich abgeschlossene Kommandoaktion.

Schwerbewaffnete Rebellen der Abu Sayyaf

Die Geiselhaft im philippinischen Dschungel von Jolo

Nachdem die beiden Boote die Insel Jolo erreicht hatten, wurden die Geiseln in einem nächtlichen Marsch zu ihrem ersten Quartier geführt. Es war ein ortsübliches Bauernhaus, eine Bambushütte auf Stelzen mit einem Wellblechdach. „Crowne Plaza“ nannten die Geiseln ironisch das erste von sechs Camps ganz unterschiedlicher Art, in denen sie untergebracht wurden. Anfangs versorgte die Eigentümerfamilie die Geiseln mit ein wenig Essen, wenig später waren sie verschwunden.

Nach acht Tagen erlebte die Geiselgruppe den ersten Angriff der philippinischen Armee, die das Camp umstellt hatte. Am Nachmittag des 2. Mai brach in unmittelbarer Nähe der Unterkunft urplötzlich ein länger anhaltendes Gefecht zwischen Rebellen und Armee aus, das mit Sturmgewehren und automatischen Waffen ausgetragen wurde. Die Geiseln mussten mit ihren Entführern Hals über Kopf auf eine kleine Lichtung in einigen Kilometern Entfernung flüchten. Dort wurden Rebellen der Abu Sayyaf und Geiseln auch mit Artillerie beschossen. Glücklicherweise forderte der Beschuss keine Opfer unter den Geiseln. Die Rebellen konnten mit ihren Geiseln den Belagerungsring der Armee durchbrechen und in einem nächtlichen Marsch durch schweres Gelände das zweite Camp erreichen.

Im zweiten Quartier, genannt „Open Air Camp“, mussten die Geiseln ihre biwakähnlichen Schlafstellen aus Bambusstützen, Bananenblättern und einer Plastikplane als Regenschutz selbst bauen. Hierher kam ein philippinisches TV-Team, das die gesamte Geiselgruppe ablichtete. Die unkommentierten Aufnahmen wurden 2015 von der Nachrichtenagentur Associated Press bei Youtube veröffentlicht. Die Gruppe blieb nur fünf Tage in diesem Quartier, da sie auch hier von der Armee aufgespürt und in Schusswechsel verwickelt wurde. Das wurde von einem Fernsehteam dokumentiert. Die Bilder der verängstigten Geiseln mit dem Schusswechsel als „akustische Untermalung“ gingen um die Welt.

Als Konsequenz flüchteten die Entführer mit ihren Geiseln in einem eintägigen 30-km-Gewaltmarsch auf einen Berg. Dieser Marsch, großenteils in stockdunkler Nacht, brachte auch die Jüngeren aus der Geiselgruppe an ihre Grenzen. Das Quartier „Mountain View Chalet“ bestand aus einer verlassenen kleinen Bambushütte. Bedingt durch die Höhenlage war die Versorgung mit Wasser ein riesiges Problem. Aus einem Felsspalt tropfte nur verseuchtes Wasser.

Der harte Alltag während der Entführung

Die evidenten Versorgungsprobleme führten nach acht Tagen zu einer erneuten Verlegung in ein tiefergelegenes Quartier: „Sea View Lodge“. Hier lebten die Geiseln bei einer Bauernfamilie und okkupierten deren Wohn- und Schlafbereich. Es war für manche der Geiseln ein ungewohnter Luxus auf einer Art dünner Matratze zu schlafen.

Nach zehn Tagen ging es weiter in das „Two Rivers Camp“. Wie der Name schon sagt, waren hier zumindest die Wasserversorgung und die Körperhygiene kein vorrangiges Problem mehr. Die Unterkünfte für die westlichen Geiseln waren zwei offene Bambusplattformen mit Plastikplanen als Dach. Hierher kamen viele internationale Pressevertreter. Daher befürchteten die Geiselnehmer, dass dieser Standort bald ausspioniert sein würde. Sie verlegten daher nach zwei Wochen ihre westlichen Geiseln in ein getrenntes Quartier, das „Mid Jungle Camp“. Dort blieben sie bis zu ihrer Freilassung, für Marc Wallert etwa drei Monate lang.

Geisellager im Dschungel von Jolo

Die Lebensbedingungen in den sechs Camps waren extrem primitiv. Teilweise schliefen die Geiseln einfach auf dem Boden. Die Plastikplanen über den Bambusplattformen hielten die tropischen Regenschauer nicht wirklich ab. Lediglich die Bauernhäuser boten mit ihren Wellblechdächern einen wirksamen Schutz vor Nässe. Natürlich gab es nirgends so etwas wie sanitäre Anlagen oder gar Strom. Die Geiseln lebten versteckt im Nirgendwo.

Der Zugang zu Wasser war von entscheidender Bedeutung für eine rudimentäre Hygiene, zum Trinken und zum Kochen. Die Verpflegung bestand in den ersten Wochen fast ausschließlich aus Reis, der nur mit Wasser gegart werden konnte, mit etwas Sojasoße. Die Lage verbesserte sich zunehmend durch Lieferungen über den lokalen Gouverneur. Die deutsche Botschaft nutzte diese Kontakte, um die Geiselgruppe in den letzten beiden Quartieren mit Kampfrationen der Bundeswehr zu versorgen. Sie enthielten neben einem Hauptgericht auch harte Kekse und portionierte Konserven für die anderen Mahlzeiten. In den letzten Monaten wurde die Versorgung auch durch die Botengänge einer Frau verbessert, die hierfür die Erlaubnis der Rebellen hatte. Sie brachte auch frische Lebensmittel und Konserven in die letzten beiden Lager, die sie auf lokalen Märkten kaufte. Die Geiseln bezahlten das mit Bargeld, das sie aus ihren Heimatländern oder über ihre Botschaften versteckt erhalten hatten oder welches sie von Journalisten, die ins Camp kamen, zugesteckt bekamen.

Die Rolle der Medien im Entführungsfall Wallert

Die Medien spielten in diesem Geiseldrama eine wichtige Rolle. Sie machten diesen Entführungsfall erst zu dem unvergleichlichen Medienereignis, das zeitweise weltweit die Schlagzeilen beherrschte. Das zu erreichen, war das erklärte Ziel der Rebellenkommandeure, allen voran Commander Robot. Sie wollten ihrer Abu Sayyaf Gruppe eine größere politische Bedeutung verschaffen, sie wollten in der „Organisation of Islamic Conference (heute: Cooperation)“ (OIC) vertreten sein. Diese Organisation von über 50 mehrheitlich muslimischen Ländern und Organisationen will die Interessen der Muslime weltweit vertreten. Daher wurde schon am 6. Tag der Entführung eine junge Frau mit einer kleinen Videokamera in das erste Geiselquartier geschleust, deren wackelige Bilder von den Nachrichtenagenturen global verbreitet wurden. Danach kamen professionelle Medienvertreter in großer Zahl in vier der sechs Geiselcamps. Es waren TV-Teams aus den Philippinen, Malaysia, Frankreich, Finnland und Deutschland. Dazu Schreibende, Fotografen und Radioreporter aus verschiedenen Ländern. Allein im Mai waren es 16 TV-Teams.

Die intensiven Medienkontakte hatten ganz unterschiedliche Auswirkungen, positive wie negative. Die Abu Sayyaf Gruppe hatte, wie beabsichtigt, ihren Bekanntheitsgrad dramatisch erhöht. Und sie profitierten vom Journalistenauftrieb in den Geiselcamps. Sie forderten und erhielten pro Team 400 Dollar – für Geleitschutz, wie sie es darstellten. Als sich in einem Fall eine größere Gruppe deutscher Medienvertreter weigerte zu zahlen, wurden sie festgesetzt und erst nach Zahlung von 25.000 Dollar freigelassen.

Internationale Journalisten interviewen Werner Wallert mitten im Dschungelcamp

Ein Effekt in der Heimat war, dass die vielen Bilder in den Nachrichtensendungen dazu führten, dass die Zuschauer diese reale Geiselnahme wie eine Reality-Show empfanden – nur mit dem zusätzlichen Kitzel, dass es doch letztlich Realität war – wenn auch eine ferne. Das TV-Urgestein Ulrich Wickert wurde mit der Aussage zitiert, so etwas habe er in seiner langen Journalistenlaufbahn noch nie erlebt (Brigitte L. Nacos: Mass-Mediated Terrorism, Rowman&Littfield Publishers 2002, p. 78).

Im philippinischen Dschungel waren die Journalisten einerseits willkommene Landsleute, die den Geiseln Geld zusteckten und die über den Stand der Verhandlungen sowie von den Reaktionen in der Heimat berichten konnten. Viele Appelle wurden in ihre Kameras gesprochen. Meist ging es um eine friedliche Verhandlungslösung, nicht überraschend nach den Erfahrungen mit militärischen Auseinandersetzungen. Die Geiseln hatten das Gefühl, so selbst etwas für die Verbesserung ihrer Lage tun zu können (s. Resilienzstrategie Selbstwirksamkeit). Das waren seltene Momente, denn sonst überwog das Gefühl der völligen Machtlosigkeit. Die Geiseln sahen sich eher als Gegenstand komplexer Verhandlungen, deren Dynamik und Hintergründe sie nicht durchschauten.

Die Berichterstattung zur Entführung vor Ort war eine Herausforderung

Der massenhafte Auftrieb der TV-Teams mit ihren Kameras war andererseits auch eine Belastung für die Geiseln. Den „Zoo-Effekt“ nannten sie es. Die Journalisten kamen, machten ihre Bilder und entschwanden. Die Geiseln blieben. Die Bilder und Interviews waren eine begehrte Ware auf dem internationalen Nachrichtenmarkt. Den Journalisten wurde der Vorwurf gemacht, ungewollt die Sache der Entführer zu begünstigen, die vor den Kameras ihre Absichten und Sichtweisen darstellen konnten. Und die wachsende Publizität trieb den Preis für die Freilassung der Gefangenen in die Höhe. Manche Journalisten schienen damit Bauchschmerzen zu haben. Sie verwiesen gegenüber den Geiseln darauf, dass sie ja mit ihrer Arbeit verhinderten, dass die Geiseln im entlegenen Tropendschungel in Vergessenheit gerieten.

In Wahrheit waren es Botschaften, Diplomaten, Krisenstäbe und staatliche Behörden, die im Hintergrund an einer Lösung des Falles arbeiteten. Ihnen war die Publizität dieses Entführungsfalles zuwider. Sie arbeiten am liebsten unter Ausschluss der Öffentlichkeit, unter den Bedingungen einer Nachrichtensperre. In diesem Fall aber mussten sie sich in ihren „Situation Rooms“ die Interviews und Berichte von Journalisten anschauen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen.

Die westlichen Regierungen setzten ganz auf die staatlichen Strukturen der Philippinen, um eine friedliche Lösung des Entführungsfalles zu erreichen. Sie bauten dabei auch großen diplomatischen Druck auf, was in Manila auf wenig Verständnis stieß. Hier hätte man mit den islamistischen Geiselnehmern gern kurzen Prozess gemacht. Opfer unter den Geiseln hätte man als Kollateralschäden in Kauf genommen, wie es in anderen Erpressungsfällen auch geschah.

In diesem Fall aber musste ein Sonderbeauftragter des Präsidenten in langwierigen Verhandlungen mit einem kriminellen Rebellenführer dessen politische Ziele aus dem Weg räumen und um den Preis für die Freilassung der Geiseln feilschen. Das friedliche Ende der Geiselnahme von Sipadan wurde letztlich durch das finanzielle Engagement der damaligen Staatsführung von Libyen erreicht. Ein hochrangiger Vertreter der Kohl-Administration konnte Staatschef Gaddafi davon überzeugen, dass Libyen durch den Freikauf der Geiseln seine internationale Reputation dramatisch verbessern könne. 25 Millionen Dollar sollen nach Medienberichten geflossen sein. Hinzu kam das große persönliche Engagement des früheren libyschen Botschafters in Manila, der einen Teil der Akteure auf der Rebellenseite von früher kannte.

Marc Wallerts Dschungelstrategien: Schutzfaktoren der Resilienz

Während seiner Geiselhaft im philippinischen Dschungel nutze Marc Wallert intuitiv mentale Techniken, die heute als Schutzfaktoren der Resilienz bekannt sind. Mit ihnen lässt sich die innere Widerstandskraft stärken. Dank dieser Überlebensstrategien überstand Marc Wallert seine Zeit als Geisel im Dschungel unbeschadet. Daher nennt er sie heute „Dschungelstrategien“. Seine wichtigsten Schutzfaktoren der Resilienz waren Akzeptanz, Optimismus, Stresskompetenz, Selbstwirksamkeit, soziale Unterstützung sowie mentale und körperliche Fitness. Aber auch (Galgen-)Humor spielte immer wieder eine wichtige Rolle.

Beispiel für eine Resilienztechnik: Optimismus stärken kann man zum Beispiel mithilfe positiver Zukunftsbilder. Was heute im Alltag hilft, half ihm auch damals in Gefangenschaft: So hat Marc Wallert sich im Dschungel immer wieder ausgemalt, wie sein Leben als freier Mann aussehen würde, wie er nach seiner Freilassung nach Deutschland zurückkehrt, dort seinen Bruder Dirk wiedersieht und mit ihm auf die Freiheit anstoßen wird – mit einem kühlen Bier! Dieses Bild hat Marc Wallert als Geisel immer wieder Mut gemacht. Und es sollte schließlich Realität werden, wenn auch etwas anders als ursprünglich erträumt …

Marc Wallert beim täglichen Wasserholen – streng bewacht von einem bewaffneten Entführer

Marc Wallerts Freilassung aus der Geiselhaft

Viereinhalb Monate verbrachte Marc Wallert als Geisel im philippinischen Dschungel. Am 23. April 2000 wurde er in Malaysia entführt, am 8. Juli „feierte“ er seinen 27. Geburtstag auf der Rebelleninsel Jolo, am 9. September kam er unter dramatischen Umständen frei. Marc Wallert wurde als letzte westliche Geisel freigelassen, zusammen mit zwei Finnen und einem Franzosen. Die 21 Geiseln wurden laut Medienberichten vor allem auf Grund von Lösegeldzahlungen freigelassen – einer nach dem andern. Renate Wallert wurde als zweite Geisel am 17. Juli 2000 freigelassen, am 27. August folgte Werner Wallert.

Hier der Auszug „Ende mit Schrecken“ aus Marc Wallerts Bestseller „Stark durch Krisen“:

„Am Morgen des 9. September 2000 ahnte ich noch nichts von meiner bevorstehenden Freilassung. Wir hörten plötzlich starkes Gefechtsfeuer im Dschungel. Wieder mussten wir fliehen, ohne zu wissen, wohin und wovor. Mittlerweile waren wir nur noch vier westliche Geiseln: Seppo, Risto, Stéphane und ich. Die anderen waren bereits freigekommen, mit Ausnahme unseres philippinischen Schicksalsgefährten Abi, der an einem anderen Ort festgehalten wurde.

Nach mehreren Kilometern Fußmarsch kletterten wir auf Befehl von Commander Robot in ein kleines Bambushaus auf Stelzen, mitten auf einem freien Feld. Da hockten wir nun und warteten – auf das Äußerste angespannt, während das Gefechtsfeuer immer näher kam. Schließlich fuhren mehrere Militärjeeps und -transporter vor. Zwei Abgesandte der philippinischen Verhandlungsführer stiegen aus und begannen aufgeregt mit Commander Robot zu diskutieren. Offensichtlich hatten sie das Lösegeld für uns dabei. Ihr Konvoi war auf dem Hinweg aus dem Hinterhalt von einer rivalisierenden Fraktion der Abu Sayyaf beschossen worden. Sie fürchteten um ihren Anteil des Lösegelds und versuchten deshalb, unsere Freilassung zu torpedieren. Bei dem Angriff hatte es Tote und Verletzte unter den Bodyguards der Abgesandten gegeben. Vor unseren Augen fand ein nervenaufreibendes Gefeilsche um uns Geiseln statt – mit unmissverständlichen Gesten. Die Abgesandten deuteten auf uns und machten ein Handzeichen mit vier Fingern. Commander Robot hob drei Finger und zeigte auf Seppo, Risto und Stéphane. Er wollte nur drei Geiseln freilassen. Ausgerechnet ich sollte als Faustpfand zu ihrer Absicherung vor dem philippinischen Militär zurückbleiben. Vielleicht auch um weiteres Lösegeld zu erpressen.

Es war grausam, mitansehen zu müssen, wie in dem Chaos meine Freilassung zum wichtigsten Verhandlungsgegenstand wurde. Meine größte Angst war, am Ende allein zurückzubleiben. Niemanden mehr zu haben, der mein Schicksal teilte, mit dem ich reden, um den ich mich kümmern konnte.

Das Gefechtsfeuer schien näher zu kommen. Die Zeit drängte. Plötzlich reichten die vor Aufregung schwitzenden Abgesandten Commander Robot die Hand. Er schlug ein. Mir blieb fast das Herz stehen. Dann erfolgte die befreiende Nachricht: Alle vier Geiseln würden freigelassen werden.

Wir wurden aufgefordert, schnell auf die Ladefläche eines Transporters zu steigen. Dicht gedrängt saßen wir zwischen schwerbewaffneten Rebellen und Bodyguards der Abgesandten. Der auf dem Hinweg beschossene Konvoi war zum Gefallenen- und Verwundetentransport geworden. Der Transporter war an den Seiten offen und bot keinerlei Schutz. Durch die offene Rückseite konnte ich weitere Transporter sehen, dicht beladen mit Rebellen, die ihre Waffen im Anschlag hielten. Zusammen mit den Rebellen holperten wir eine gefühlte Ewigkeit über Dschungelpisten, bis wir an einer befestigten Straße anhielten. Die Rebellen sprangen von unserem Fahrzeug, und Soldaten der philippinischen Armee stiegen zu. Das war ein gutes Zeichen. Ich versuchte dennoch, meine Euphorie zu bremsen. Bloß nicht den Kopf verlieren.

Wir rollten einige Kilometer die Straße entlang und stoppten an einem Feld. Dort erwarteten uns bereits Militärhubschrauber. Mit ihnen hoben wir ab in Richtung Freiheit. Die Türen der Kampfhubschrauber waren ausgehängt und mit Soldaten mit Maschinengewehren bemannt.

Überwältigt von einer unbeschreiblichen Gefühlsmischung, schaute ich in die Augen meiner drei Weggefährten. Auch sie schwankten zwischen Weinen und Lachen. Da durchzuckte mich ein letzter Zweifel: Was, wenn uns jetzt eine Boden-Luft-Rakete vom Himmel traf? Doch nach dem gefühlt längsten Flug meines Lebens setzten wir schließlich an einem sicheren Ort auf. Ich sah die ersten befestigten Häuser seit Langem und eine Traube von Menschen, die uns erwarteten. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Nach einer monatelangen Zitterpartie war es endlich wahr: Ich war wieder ein freier Mann.“

Tagesschau vom 09.09.2000 auf tagesschau.de

Marc Wallerts Leben nach der Entführung

Nach seiner Freilassung flog Marc Wallert zunächst nach Libyen, um Gaddafi für sein Engagement für eine friedliche Freilassung zu danken. Zu seiner großen Überraschung und Freude kam ihm sein Bruder Dirk Wallert nach Tripolis entgegen, um ihn abzuholen. Hier wurde dann auch die Vision von Marc Wallert Realität: Dirk und Marc Wallert stießen mit einem Bier auf die Freiheit an! Auf dem Flughafen Hannover schließlich folgte das Wiedersehen mit ihren Eltern Werner und Renate Wallert.

Nach ihrer Freilassung stellte sich Familie Wallert dem medialen Interesse und gab zahlreiche Interviews und Pressekonferenzen. Nicht zuletzt auch als Zeichen der Wertschätzung gegenüber den vielen Menschen, die am Bildschirm mitgefiebert hatten. Man konnte der „Entführung der Familie Wallert“ im Jahr 2000 medial kaum entfliehen, selbst wenn man es wollte. Allein die Tagesschau um 20 Uhr hat ca. zwei Stunden über den Entführungsfall Wallert berichtet. Umso mehr wuchs für Familie Wallert der Wunsch nach Privatsphäre.

Marc Wallert beim Impulsvortrag als Keynote Speaker

Nach einigen Wochen in der Heimatstadt Göttingen kehrte Marc Wallert zurück nach Luxemburg, wo er als Unternehmensberater arbeitete. Er knüpfte recht schnell an seine alte Karriere an und arbeitete über 15 Jahre als Berater und Manager in internationalen Unternehmen. Er war stets erfolgreich, doch meist auch gestresst. Letztlich waren es „Deadlines“, die ja nicht wirklich tödlich waren, die Marc Wallert in einen Burnout getrieben aben. Aus seinem Burnout und privaten Beziehungskrisen durfte er später viel über Krisen lernen. Nämlich wie man nicht nur stark durch Krisen kommt, sondern auch stark durch Krisen wird. Inspiriert durch diese Erfahrungen beschloss Marc Wallert, ein Buch zu schreiben. Keine Entführungsgeschichte, sondern einen Inspirationsgeber für Menschen, die Inspirationen für den Umgang mit Krisen suchen und mentale Stärke entwickeln möchten. Es geht um den guten (und humorvollen) Umgang mit Krisen. Ja, Marc Wallert hat ein Faible für Krisen entwickelt, oder zumindest für die Chancen, die darin schlummern. „Resilienz“ heißt sein Herzensthema, das er heute in seinen Vorträgen als Keynote Speaker teilt.

Was macht Familie Wallert heute?

Familie Wallert wurde im Jahr 2000 durch die intensive Medienberichterstattung über die Entführung vielen Menschen bekannt. Vor allem die Frage „Wie geht es Renate Wallert?“ hat nach den Bildern aus dem Jahr 2000 viele Menschen bewegt.

Renate Wallert hat sich nach ihrer Freilassung psychisch und körperlich weitgehend erholt und ist heute gesundheitlich recht fit für ihr Alter, so wie auch ihr Mann Werner Wallert. Beide genießen ihren Ruhestand. Mittlerweile sind sie stolze Großeltern von fünf Enkeln ihrer beiden Söhne Dirk und Marc Wallert.

Seit 2009 wohnt auch Marc Wallert wieder in seiner Heimatstadt Göttingen. Von hier aus reist er als Keynote Speaker zu seinen Kunden, um dort Vorträge zu halten. Mittlerweile hält Marc Wallert überwiegend Online-Vorträge aus seinem professionellen Digitalstudio. Das kommt nicht nur seinen Kunden entgegen, sondern zugleich auch seiner Familie.

Somit bleibt Marc Wallert auch in der Corona-Krise seinem Motto treu:
„Stark durch Krisen – kommen und werden“. Denn jede Krise enthält auch eine Chance!

 

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